Lieschen Müller und die Rübe

Alle Kinder im Hof

rufen:

Lieschen Müller,

die ist doof!!

 

Lieschen war anders als die anderen. Sie lief überall gegen, stolperte über ihre kleinen Pfoten, machte ständig Geräusche und rannte alles über den Haufen. Lieschen sei doof, sagten die Kinder, und die Eltern brachten sie ins Tierheim. Sie war keine 8 Wochen alt, ein kleines Katzenmädchen und sie war nicht doof – sie war einfach nur blind!

 

Es war die Zeit in Hamburg und es war die Zeit der Katzen. Lara  hatte ein Zuhause gefunden und es ging ihr gut. Wodka lebte nicht mehr und sie ging regelmäßig in einem kleinen Tierheim vor der großen Stadt aushelfen. Nicht bei den Hunden, das konnte sie nach Wodkas Tod noch nicht, aber bei den Katzen, das ging und machte ihr viel Freude.

 

Rübe war schon da! Vor so ungefähr einem halben Jahr hatte sie ihre kleine Kurzrumpfkatze, wie sie Rübe oft nannte, mitgenommen. Sie war fast so breit wie lang, hatte schräg abgeknickte Ohren und einen Stummelschwanz. Rübe sah aus wie eine Rübe und deshalb hieß sie auch so. Die passt in mein Leben, sagte Lara damals und auch ihre Wohngemeinschaft hatte sich mit dem Familienzuwachs schnell angefreundet. Rübe war selten da, denn sie konnte rein und raus wann immer sie wollte – und Rübe wollte oft raus! Sie hatte ihre eigene Tür durch ein altes Fenster auf dem Dachboden und eine eigene kleine Treppe aus dem Holz einer alten Teekiste. Einmal blieb sie in ihrer Tür sogar stecken und musste danach wochenlang Diät machen, aber das ist eine andere Geschichte!

 

Und dann kam Lieschen Müller, unsere Lizzi, die wir später nur noch Lizzpisslazuli oder Liesepiese nannten . Sie wurde einfach abgegeben! Am Tor zum Tierheim hieß es, dass sie nicht ganz dicht wäre und die Kinder nicht mit ihr klarkämen, und schon waren diese Menschen wieder weg. Sie hatten noch nicht einmal mitbekommen, dass die Kleine von Geburt an blind war und darüber hinaus mit diesem Handicap wunderbar klar kam. Lara nahm sie am gleichen Tag mit nach Hause und ihre Wohngemeinschaft war begeistert, endlich eine Katze zu haben, die nicht immer weg war. Alle waren erstaunt, wie wenig Schwierigkeiten Lieschen hatte sich in ihrem neuen Zuhause frei zu bewegen – die schlimmsten Befürchtungen trafen nicht ein! In ihrem kleinen Kopf hatte sie bald die gesamte Wohnung abgespeichert und wusste genau, wo was steht und wie hoch es ist. Es durfte nur nichts wesentlich verändert oder in den Weg gestellt werden, dann rannte sie auch mal dagegen.

 

Lizzi war nicht doof, sie war ein Wunderwerk der Natur und entwickelte im Laufe der Jahre eine einzigartige Fähigkeit, eine Art Sonar mit dem sie jederzeit ihre nähere Umgebung quasi scannen konnte. Wurde sie unsicher, fing sie an, im Laufen leise Geräusche zu machen. Es war so eine Art des ‚MähMäh’, wie man es von Ziegen kennt und sehr ungewöhnlich für eine Katze, wie wir damals fanden. Zunächst dachten wir, sie würde in ihrer Unsicherheit um Hilfe rufen, aber später verstanden wir, dass sie so am Echo feststellte, ob irgendwelche Hindernisse im Weg waren. Freie Bahn zum Toben, hieß es dann ganz schnell und es gab Tage, an denen uns Besucher fragten, warum Lieschen immer so glasig gucken würde – die Blindheit war ihr im Verhalten kaum mehr anzumerken. Sie hatte ein Handicap und sie wusste sich aus eigener Kraft zu helfen.

 

Eigentlich hatte sie gar kein Handicap, außer dieser Sache mit dem Katzenklo. Manchmal war der Weg einfach zu weit oder zu langwierig, wenn die Blase drückte, und Lizzi fand überall in der großen Wohnung herrliche Pipiplätzchen. Hinter Vorhängen, unter Regalen und zwischen den Schränken lagen nach einiger Zeit überall alte Handtücher und die gesamte Wohngemeinschaft half mit, diese regelmäßig zu wechseln. Alles eine Frage der Techmik, sagte Lara mal, und ihr Erfindungsreichtum in solchen Dingen war wirklich unverwüstlich. Lizzi, unsere kleine Liesepiese, war schließlich ihr kleines Lizzpisslazuli – fast ein Edelstein und das Beste, was ihr je passiert sei!

 

Jahre vergingen und Lara beendete ihr Studium, welches sie bald nach ihrer Ausbildung zur Erzieherin aufgenommen hatte. Zeit für ein neues Leben und Zeit für eine eigene Wohnung, sagte sie mir damals am Telefon. Ich war damals selber mit meinem Studium fertig und es sollte nicht lange dauern, da waren zwei arbeitslose Sozialarbeiterinnen gemeinsam auf der Suche. Ein kleines Haus in Altwarmbüchen, ein paar Kilometer Nordöstlich von Hannover, sollte es dann sein und für uns beide begann tatsächlich ein neues Leben, Arbeitsstellen inklusive! Lizzi und Rübe waren natürlich mit im Gepäck und während Rübe loszog, die Kater in der Nachbarschaft zu verprügeln, packte Lieschen gemütlich ihre Scanner aus und begann damit, sich häuslich einzurichten.

 

Eine kleine Terasse zum Garten hatten wir eingezäunt und Lizzi durfte das erste mal in ihrem Leben nach draußen. Im Alter von fünf Jahren das erste mal wärmende Sonnenstrahlen auf dem Fell zu spüren, muss ein gewaltiges Erlebnis sein. Lieschen lies uns dran teilhaben und war an warmen Tagen kaum noch zu bewegen, ins Haus zu kommen. Unsere Terasse wurde zu LizzisGarden und es sollte noch lange Jahre so bleiben. Rübe leistete ihr oft Gesellschaft und vor allem die selbstgezimmerte Sandkiste, die eigentlich als Klo gedacht war, hatte es beiden als Liegeplatz angetan.

 

Es war die Zeit der Katzen und manchmal war Lara nicht mehr zu halten. Mogli, der dreibeinige Kater, den eine Bekannte aus früheren Zeiten nicht mehr haben wollte, zog bei uns ein. Dickmann, der Doppelkater, den wir auch Dickmannowitsch nannten, weil er nicht gerade klein war, folgte bald darauf. Und dann kam noch Minka dazu, eine kleine Schwarzbunte mit eingebautem Turbo, weil sie aus dem Stand auf den hohen Wohnzimmerschrank springen konnte. Und alle liebten den Sandkasten in LizzisGarden, wenn sie denn mal da waren, was sehr selten war. Nur das Lieschen, das war immer da, und es ging ihr gut mit ihren Kollegen – als Chefin vom Ganzen, hatten wir so manches mal den Eindruck! Lizzi hatte alle und alles im Griff – was im Weg war und nicht umschifft werden konnte wurde weggeräumt und wer mit ihr kollidierte, musste mit Prügel rechnen. Und da war gut so!

 

In späteren Jahren wurde Lieschen altersbedingt sehr tüdelig. Sie schlief immer mehr, wie viele ältere Tiere das so machen, und wusste nach dem Aufwachen oft nicht mehr, wo genau sie sich befand. Sie wurde immer vergesslicher und war immer weniger in der Lage, sich aufgrund ihres inneren Wohnungsplanes zu orientieren – und auch das Echolot funktionierte mit abnehmender Hörleistung immer schlechter. Lieschen brauchte immer mehr Hilfe im Alltag und aus der einst so stolzen Chefin des Hauses wurde ein kleines Häufchen Elend, das sich nur noch auf dem Schoß ihrer Menschen wirklicher sicher und wohl fühlte. Im Alter von nur 15 Jahren wurde sie vom Tierarzt erlöst und sie gesellte sich zu unseren anderen Freunden auf das Dach des Regenbogens. Ich habe sie niemals vergessen und bis zum heutigen Tage habe ich noch oft das Meckern einer Ziege im Ohr: Es ist mitten in der Nacht und Lizzi streunt durch die Wohnung. Im Schlafzimmer angekommen wird sie auf das Bett springen, sich einen Tunnel unter die Bettdecke bohren und sich zufrieden gurrend zwischen Laras Füßen zusammenrollen.

 

Erinnerungen sind manchmal wie Bilder! Ich habe niemals wieder ein solch intelligentes Tier getroffen und kennen gelernt. Lieschen Müller war nicht doof!

 

Doof geboren ist keiner,

doof wird man gemacht!

Und wer behauptet: ‚Doof bleibt doof’,

der hat nicht nachgedacht!

 

(Birger Heymann, GRIPS-Theater, Berlin, R.I.P.)

Logo Fabelschmiede

„Mistköter und Seelenhunde“ von Severine Martens,
Manuela Kinzel Verlag, Dessau/Göppingen,
ISBN 978-3-95544-005-3,
9,90 Euro.
Ab Dezember 2013 im Buchhandel, Vorbestellungen über den Verlag möglich!
© Severine Martens und Manuela Kinzel Verlag