Eric … von Petra Durst-Benning

„Die Todesangst hat mich gelehrt, im Augenblick zu leben, dankbar für die kleinsten Freuden zu sein. Ich, der Kontrollfreak, habe gelernt, loszulassen. Ich, der Überflieger, habe gelernt, geduldig zu sein mit denen, die nicht ganz so schnell und kraftvoll durchs Leben gehen. Ich bin insgesamt sanfter geworden und verletzlicher. Demütig bin ich geworden. Und das ist gut so.“ (Petra Durst-Benning)

Die Bestsellerautorin und Hundebuchautorin Petra Durst-Benning schreibt für uns den zweiten Artikel unserer Reihe Abschied für länger: Das Leben, die Liebe und der Tod. Schwere Jahre hat sie an der Seite ihres Hundes Eric erlebt – mit ihm zusammen und immer an seiner Seite. Ein sehr bewegender Artikel mit viel Herz und Liebe geschrieben. … Wir wünschen Euch erneut besinnliche Momente beim lesen!


Sechs Mal musste ich bisher Abschied nehmen von meinen Hunden.

Ich habe gelernt, dass der Tod viel zu früh kommen kann, so wie bei meinem ersten Schäferhund Attila, der mit nur einem Jahr von bösen Menschen vergiftet wurde. Durch meinen zweiten Schäferhund Wotan habe ich gelernt, wie wichtig es ist, den richtigen Zeitpunkt nicht zu verpassen. Lieber einen Monat zu früh als einen Tag zu spät einschläfern, ist seitdem meine Devise. Dem Hund die Würde erhalten bis zum Ende! Ich habe gelernt, dass der Tod völlig unerwartet kommen kann, so wie bei unserer Dobermannhündin Dekita, die nach Morgenspaziergang und Frühstück gemütlich auf ihrem Sofa lag, einmal hustete und tot war.

Petra Durst-Benning

Was ich nicht gelernt habe, ist, mit dem Tod zu leben, Tag für Tag, Nacht für Nacht. Doch genau das wurde mir drei Jahre lang abverlangt.

Unser Eric wurde in einer ungarischen Tötungsstation geboren und kam mit vier Monaten zu uns. Ein nervöser, kränklicher Hund, der bei uns zu einem stattlichen Brackenmischling heranwuchs. Die ersten zwei Jahre hatten wir viel Spaß zusammen, und wir waren ein tolles Team beim Man-Trailing, meiner großen Leidenschaft.
Doch dann, es war der Sommer 2010 während der Fußball-Weltmeisterschaft in Südafrika, schlug das Schicksal zu. Ich war allein zuhause, schaute ein Spiel der deutschen Mannschaft an. Eric hatte sich nach der letzten Gassirunde ins kühle Schlafzimmer verzogen. Deutschland war auf Siegerkurs! Auf einmal ertönten Poltern und Schläge aus dem Schlafzimmer. Stirnrunzelnd stand ich auf, um nachzusehen. Ich fand unseren Hund mit Schaum vor dem Mund vor, sich krümmend und windend, eindeutig nicht mehr bei Bewusstsein. Tollwut? Eine Vergiftung? Mit zitternden Händen wählte ich die Nummer des tierärztlichen Notdiensts. „Kommen Sie sofort!“, hieß es. Der Hund war inzwischen wieder zu sich gekommen, er hatte zuvor sämtliche Körperflüssigkeiten verloren. Orientierungslos wie er noch war, packte ich ihn in die Hundebox und fuhr los. Die Straßen waren zu! Im Autocorso, inmitten von hupenden, euphorisierten Fußballfans, versuchte ich, meinen Hund zum Tierarzt zu bringen. Jede Tröte, jede Hupe schrillte in meinen Ohren, ich wurde fast wahnsinnig. Hilflos saß ich hinter dem Steuer und wusste nicht, wie es Eric in seiner Box ging.

Die junge Tierärztin hörte sich meine Schilderung an, dann schickte sie uns sofort weiter in die Tierklinik. Ich fuhr erneut durch die noch immer tobende Nacht, zusammen mit dem erschöpften Hund.

Tag1In der Tierklinik fiel zum ersten Mal das Hasswort: Epilepsie.

„Der Hund ist jetzt stabil, Sie können ihn mit nach Hause nehmen, müssen aber morgen zu großen Untersuchungen wiederkommen.“ Für den Fall der Fälle gab man mir dennoch ein Beruhigungsmittel mit, welches ich rektal zu verabreichen hätte. Ich war gerade vor Erschöpfung eingeschlafen, als Eric erneut zu krampfen begann. Er donnerte mit dem Kopf gegen die Wand und mit seinen Beinen an den Schrank. Das passiert mir alles gar nicht! Das ist ein Albtraum, aus dem ich gleich erwache!, schoss es mir durch den Kopf, als ich versuchte, dem zuckenden Hund das Valium rektal zu verabreichen.
Der Albtraum währte drei Jahre. „Idiopathische Epilepsie“ lautete die Diagnose, die ich am nächsten Tag in der Tierklinik gestellt bekam. Noch während der stundenlangen Untersuchungen bekam Eric einen weiteren schweren Anfall, die Tierärzte verabreichten das Valium intravenös, um ihn herauszuholen. „Cluster Anfälle“, und „Grand Mal“ – was sich so elegant anhörte, waren Synonyme für Todesangst.

Benötigen sie eine Expertin für Epilepsie? Hier ist eine! Es gab keine Literatur, die ich mir in den nächsten Tagen, Wochen und Monaten nicht hereinzog. Ich war unterwegs auf diversen Internetplattformen, Selbsthilfegruppen, ich besorgte mir jede wissenschaftliche Studie zum Thema Epilepsie.

Eine schwere Krankheit hatte meinen Hund befallen. Ich war traurig und verzweifelt, aber ich war auch bereit, den Kampf aufzunehmen. Mit guter ärztlicher und tierheilpraktischer Begleitung, medikamentös perfekt eingestellt, mit besten Nahrungsmittelergänzungen und viel Ruhe würden wir das wieder hinbekommen!

Wie schnell mir meine Arroganz ausgetrieben werden würde, habe ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht geahnt.

Die Anfälle kamen immer aus dem Blauen heraus. Ohne Vorwarnung. Sie kamen, während wir beim Sonntagsfrühstück saßen und miteinander lachten. Sie kamen beim gemütlichen Tatort-Gucken, meist jedoch kamen sie mitten in der Nacht. „Man würde im Vorfeld eine Aura beim Hund wahrnehmen, wenn man nur genau genug auf Anzeichen achtete“, hieß es in diversen Foren immer wieder. Ich habe den siebten Sinn bei unseren Hunden, doch bei Eric spürte ich nichts.
Wenn ich die Anfälle schon nicht vorausahnen kann, dann muss ich darauf gefasst sein, dachte ich mir. Ich hörte auf zu schlafen, ich „wachte“ über den Hund. Denn meist kamen die Anfälle nachts zwischen zwei und vier Uhr. Der Hund schlief inzwischen bei uns im Bett, eng an mein Bein geschmiegt, so dass ich die ersten Zuckungen hautnah mitbekam. Meist waren es zwei, drei Anfälle pro Nacht. Zu zweit konnten wir sie einigermaßen gut bewältigen. Schlimm waren die Zeiten, in denen ich allein zurechtkommen musste. Die Todesangst hatte Einzug gehalten ins Haus.

Mein schönes, freies Leben, wie ich es bisher geführt habe, war vorbei.

Eric musste 24/7 überwacht werden. In den Keller gehen und eine Maschine Wäsche hinstellen? Was, wenn er in diesen fünf Minuten einen Anfall bekommt und niemand da ist, um ihn herauszuholen? Was, wenn er in einen Status Epilepticus fällt und stirbt? Jede noch so banale Handlung musste minutiös geplant werden, damit Erics Betreuung gewährleistet war. Dogsitter waren rar gesät, niemand traute sich zu, im Ernstfall entsprechend zu reagieren.

IMG_2240Die Freunde wurden spärlicher. Ich war allein wie noch nie in meinem Leben.

Das Bewusstsein, dass nur einen Wimpernschlag später alles anders sein kann, pumpte mir Tag und Nacht Adrenalin durch die Adern. Das und drei Jahre ohne Schlaf forderten ihren Tribut, ich bekam eine chronische Schmerzkrankheit.
Auch Erics Zustand wurde von Jahr zu Jahr schlechter. Anfangs reichte eine Ampulle Diazepam, um ihn aus einem Anfall herauszuholen, später brauchte es drei. Jeder kann sich vorstellen, wie es dem Hund danach ging. Trotz bester tierärztlicher Betreuung gelang es uns nicht, die Anfälle zu vermeiden. Die starken Medikamente setzten ihm körperlich, seelisch und geistig zu. Er war längst kein Kamerad mehr, sondern ein behinderter Schutzbedürftiger. Er sah Gespenster, versteckte sich unterm Tisch, hatte Harnverhalten und andere körperliche Gebrechen. Dazwischen gab es auch gute Tage. Für die lebten wir. Aber die schlechten Tage wurden mehr. In einer besonders verzweifelten Nacht mit vier Anfällen mussten wir den tierärztlichen Notdienst rufen, damit er Eric Valium, das ich für den Notfall immer zuhause hatte, intravenös spritzte. Etwas anderes half nicht mehr. Bei einem der nächsten Anfälle würde der Hund sich die Wirbelsäule brechen, meinte der Notfallmediziner. Und ich wusste: Die Zeit des Abschiednehmens war gekommen.

Dies waren die drei schlimmsten Jahre meines Lebens.

Dennoch – Eric hat mir viele Lektionen beigebracht: Die Todesangst hat mich gelehrt, im Augenblick zu leben, dankbar für die kleinsten Freuden zu sein. Ich, der Kontrollfreak, habe gelernt, loszulassen. Ich, der Überflieger, habe gelernt, geduldig zu sein mit denen, die nicht ganz so schnell und kraftvoll durchs Leben gehen. Ich bin insgesamt sanfter geworden und verletzlicher.

Demütig bin ich geworden. Und das ist gut so.

(Alle Rechte am Text und an den Fotos bei Petra Durst-Benning)


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